Ein Schulleben in den 1940er Jahren – Besuch eines ehemaligen Schülers im Deutschunterricht der 9a

An einem Dezembermorgen fand in der 9a gerade Deutschunterricht statt, als ein älterer Herr seinen Kopf durch die Türe des Klassenraums im Altbau steckte. Er grüßte freundlich und erzählte uns, dass er vor 75 Jahren genau in diesem Klassenraum im Unterricht gesessen habe. Falls diese alten Zeiten uns interessierten, sei er gerne bereit, einmal vorbeizuschauen und uns etwas darüber zu erzählen. Die Klasse 9a war sich schnell einig, dass wir diesen ehemaligen Schüler, Herrn Jörn Wettermann, sehr gerne zu uns einladen wollten. Wir entschieden, ihm einen Brief zu schreiben; dies übernahm der Klassensprecher Matteo Renken. Herr Wettermann sollte im Januar vor den Halbjahrsferien zu einer Doppelstunde Deutsch eingeladen werden und die Klasse wollte einen Sitzkreis mit Kuchen und Tee für ihn vorbereiten. Unser Geschichtslehrer Michael Lange sollte ebenfalls teilnehmen. Herr Wettermann nahm unsere Einladung an und erschien in Mantel, Hut und Stock pünktlich um 9:30 Uhr zu dem Termin. Alte Fotos aus den 40er Jahren hatte er auch mitgebracht. Mehrere Jugendliche hatten Kuchen oder Muffins mitgebracht, es gab verschiedene Teesorten und Frau Eckermann brachte einen großen Wasserkocher aus der Mensa mit in den Klassenraum. Drei Schülerinnen und Schüler hatten Notizblöcke parat; sie hatten sich bereiterklärt, einen Zeitungsartikel über dieses außergewöhnliche Event zu verfassen. Nun begann der 87- jährige Herr Wettermann zu erzählen. Der folgende Text wurde von der Schülerreporterin Sarah Shaalan verfasst: Jörn Wettermann wurde 1938 auf einem Bauernhof in Seefeld geboren. Damals hieß unsere Schule noch „Staatliche Oberschule für Jungen“ und war ganz anders als heute. Herr Wettermann wuchs mit zwei Geschwistern und seiner Mutter auf. Seinen Vater hatte er kaum kennengelernt, da dieser als Soldat im zweiten Weltkrieg gefallen war. 1944 wurde Jörn Wettermann eingeschult. Damals gab es 49 Schüler an der Grundschule in Seefeld und oft wurden verschiedene Jahrgänge in einer Klasse unterrichtet, von nur einem Lehrer in zwei Klassenräumen. Wenn ein Kind etwas falsch machte, konnte es vorkommen, dass es vom Lehrer aufgefordert wurde, mit einem Taschenmesser eine Weidenrute schneiden zu gehen. Dann wurde es damit auf die Hand oder sogar das Hinterteil geschlagen.



Die Lehrer waren zu der Zeit nationalsozialistisch eingestellt, und die Kinder lernten Lieder und Gedichte, die später nach dem Krieg verboten wurden. Herr Wettermann erzählte auch von der Judenverfolgung. Juden wurden als Feinde dargestellt und die Kinder lernten in der Schule, sie zu hassen. Es gab sogar Kinderreime und Theaterstücke, die Juden als böse und betrügerisch darstellten. Diese Zeit war geprägt von sehr viel Hass. Als der Krieg 1945 endete, mussten die Kinder zuhause bleiben. Jörn Wettermann verbrachte diese Zeit bei seinem Onkel, der ihn unterrichtete. Die Schulen waren zunächst geschlossen, weil die Lehrer in Entnazifizierungslagern der britischen Besatzung untergebracht waren. Alle Lehrkräfte mussten umgeschult werden, um demokratische Werte zu lernen. Es gab kaum Unterricht und die Kinder suchten in ihrer Freizeit Bombensplitter, um sich die Zeit zu vertreiben. Spielzeug gab es nicht, stattdessen wurde z.B. gebastelt und Spielzeug selbst hergestellt. Die Schulbücher aus der NS-Zeit mussten nach 1945 komplett umgeschrieben werden, weil sie nationalsozialistische Inhalte enthielten. 1946 begannen die Schulen wieder zu öffnen, so auch die ‚Oberschule für Jungen‘ in Nordenham. Die Schulsachen waren einfach: Tafel, Griffel, Wischlappen, Lesebücher und hölzernes Notpapier. Tinte und Feder wurden ebenfalls zum Schreiben verwendet, aber das gestaltete sich oft schwierig, weil die Tinte spritzte, wenn die Federn über das hölzerne Papier kratzten. Im Winter war die Schule eiskalt und jedes Kind brachte ein Stück Holz von Zuhause mit, um den Ofen im Klassenzimmer zu heizen. Es gab kaum genug zu essen. Die Oberschule war damals die höchste Schulform, die nur nach Bestehen einer Aufnahmeprüfung besucht werden konnte. Wer aufgenommen wurde, galt als Teil einer schulischen Elite, was damals nur wenigen Kindern möglich war. Vorübergehend war das heutige Gymnasium auch als Kriegslazarett verwendet worden und Herr Wettermann und seine Schulfreunde buddelten auf dem heutigen Fußball-Schulhof, wo sich damals eine Sandgrube für den Weitsprung befand, Krücken und Prothesen aus; viele Männer hatten im Krieg Arme oder Beine verloren. Amerika unterstützte Deutschland nach dem Krieg mit Care-Paketen, die Lebensmittel und Kleidung enthielten. Auch eine Schulspeisung an der Schule, fand aber nur einmal in der Woche statt. Jörn Wettermann hatte als eines der wenigen Kinder, die aus den Außenbezirken kamen und die Oberschule in Nordenham besuchten, genug zu essen, da er auf einem Bauernhof lebte. Herr Wettermann liebte seine Schulzeit an unserer Schule damals überhaupt nicht. Schüler standen schon damals unter einem enormen Leistungsdruck. Nach dem Krieg hatte sich die Schülerzahl schnell vergrößert. Plötzlich besuchten deutlich mehr Kinder die Oberschule als früher. Die Lehrkräfte, es gab damals auch viele Frauen im Schuldienst, rieten den Kindern gern, die Schule zu verlassen, denn es gab viel zu viele Kinder und viel zu wenige Lehrkräfte. In Jörn Wettermanns 5. Klasse waren fast 50 Kinder, übrigens sowohl Jungen als auch Mädchen.


Die Kinder lernten Gedichte wie Schillers Balladen auswendig und es gab die Schulnoten 1 bis 5. Herr Wettermann erzählte uns, dass er ein schüchterner Junge war und oft gehemmt war, wenn er im Unterricht aufgerufen wurde. Es gab sechs Schultage in der Woche, auch der Samstag gehörte dazu. Schulferien gab es natürlich auch, aber diese Zeit war für die Kinder nicht nur Zeit zum Ausruhen. Sie mussten auf den Feldern helfen, Kartoffeln ernten oder andere Arbeiten erledigen. Im Winter war es so kalt, dass man auf zugefrorenen Seen und Gräbern Schlittschuhlaufen konnte. Schularbeiten wurden oft bei Kerzenlicht gemacht, weil der Strom knapp war. Herr Wettermann erinnert sich an einen einzigen Schulausflug zum Vareler Mühlenteich, wo die Kinder ruderten und einen zum Strand. Jörn Wettermanns Erzählungen haben uns gezeigt, wie schwer das Leben damals war. Die Schule war streng und es gab viel Not, aber die Menschen halfen sich gegenseitig und hofften auf eine bessere Zukunft. Sarah Shaalan, 9a Für die Klasse 9a war Herr Wettermanns Besuch ein ganz besonderes Erlebnis, das uns noch lange in Erinnerung bleiben wird. Herzlichen Dank, lieber Herr Wettermann!
Vera Eckermann, Deutschlehrerin der 9a